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Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 155 – Drucksache 20/5646
 in Luft, Wasser und Nahrung oder auch psychische Stressbelastungen aller Art, woraus theoretisch Kombina- tionseffekte resultieren könnten. Für sich genommen nicht gesundheitsschädliche Faktoren könnten sich zu einer Gesamtbelastung summieren, die vom Organismus schließlich nicht mehr toleriert werden kann (z.B. Kühling 2019).
Vor diesem Hintergrund werden die grundsätzlichen Schwierigkeiten, das Thema »Gesundheitliche Risiken des Mobilfunks« rein aus der wissenschaftliche Erkenntnislage heraus zu betrachten (oder resultierende Entschei- dungen zu treffen), deutlich. In diesem Kontext, nämlich um aus einer Bewertung der wissenschaftlichen Erkennt- nislage Schlussfolgerungen für das Management des Risikos ableiten zu können, wird etwa empfohlen, die vier sogenannten Bradford-Hill-Kriterien (Bradford Hill 1965) als Analyseraster anzuwenden. Mit den Kriterien kann beurteilt werden, wie gut die vorliegenden Befunde die Annahme eines kausalen Zusammenhangs untermauern. Je besser die Kriterien erfüllt sind, desto plausibler ist der Zusammenhang zwischen Risikofaktor und Erkrankung (BfS 2021, S.4) und desto wichtiger die Anwendung des Vorsorgeprinzips. Bei den Kriterien handelt es sich um:
› Konsistenz der Ergebnisse: Kommen unterschiedliche Studien zu vergleichbaren Aussagen?
› Dosis/Exposition-Wirkungs-Beziehung: Steigt mit zunehmender Exposition das Risiko an?
› Biologische Plausibilität: Passt der Zusammenhang zu dem vorhandenen biologischen Wissen? Wurde der Wirkmechanismus und der Effekt in Tierstudien und In-vitro-Experimenten gezeigt?
› Kohärenz: Sind die beobachteten Effekte mit dem Wissen und der Biologie zu der betrachteten Krankheit kohärent?
Die Governance von Risiken ist eine politische Aufgabe, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußt und dar- über hinaus geht (OPECST 2019, S. 101). Dabei soll der Handlungsbedarf festgestellt werden, einzelne Maßnah- meoptionen identifiziert, bewertet und verglichen werden (Risikokommission 2003, S. 41).
Für die Ableitung der Notwendigkeit von Vorsorgemaßnahmen sind neben einer Bewertung der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und damit verbundenen (Un-)Sicherheiten auch weitere Wissenselemente einzube- ziehen. Dazu zählt die Bewertung des Abstands zu einer möglichen Wirkschwelle und das Ausmaß der möglichen Schäden (BfS 2021, S. 2). Politische, soziale, mediale und kulturelle Aspekte sind bei der Risikobewertung eben- falls im Blick zu behalten. Dafür können demokratiepolitische Qualitätskriterien angelegt werden (ITA 2020, S. 49). Der interessierten bzw. organisierten Öffentlichkeit sollte eine Möglichkeit der Mitsprache vor der politi- schen Entscheidungsfindung eingeräumt werden. Öffentliche Debatten über Risiken sind für das Vertrauen in und die Akzeptanz von Entscheidungen essenziell. Wichtig ist hierbei, für eine gute Strukturierung der Debatte zu sorgen und einen starken Fokus auf die Inhalte zu legen, dabei auch auf die quantitative Abschätzung der Risiken. Klar ausgewählte strittige Aspekte und die möglichen Folgen einer Regulierung bzw. von verschiedenen Maß- nahmeoptionen sollten diskutiert, zugleich aber die Diskussion von Prozeduren der Risikoabschätzung möglichst vermieden werden bzw. in den Hintergrund rücken. Die Ergebnisse der Risikoabschätzung wären sodann für die Öffentlichkeit kommunikativ aufzubereiten, insbesondere wenn Wiedersprüche vorliegen (OPECST 2019, S. 140 f.).
Ein Beispiel der Umsetzung eines solchen demokratiepolitischen Prozesses stellt die Royal Society of Ca- nada, die parallel zur Neudiskussion der bestehenden gesetzlichen Grenzwerte auch ein Beteiligungsverfahren organisierte (ITA 2020, S.47ff.). In Frankreich organisierte die französische OPECST in den letzten vier Jahren
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zeptanz der resultierenden Erkenntnisse zu stärken (OPECST 2018, S. 72).
Bei der Entscheidung über Vorsorgemaßnahmen haben die allgemeinen Grundsätze eines Risikomanage- ments Anwendung zu finden. Dazu gehört das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und die Abwägung der Vor- und Nachteile eines Tätigwerdens oder Nichttätigwerdens. Kosten und Nutzen sollen gegenübergestellt werden und nichtwirtschaftliche Dimensionen wie die Akzeptanz der Öffentlichkeit für die vorgesehenen Maßnahmen in die
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, zu den Auswirkungen von EMF auf Nutz- . Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, die Partizipation der Öffent- lichkeit an der Gestaltung von Forschungsprogrammen und -design zu ermöglichen oder zu stärken, um die Ak-
öffentliche Anhörungen zu den Risiken der EMF-Hypersensibilität
tiere
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sowie zu den Perspektiven von 5G
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Beratung bzw. Entscheidungsfindung Eingang finden.
Nur auf einer breiten Wissensgrundlage kann evaluiert
 86 http://www.senat.fr/compte-rendu-commissions/20180528/opecst.html#toc2 (24.2.2022)
87 http://www.senat.fr/compte-rendu-commissions/20210215/opecst_bul_2021_02_18.html#toc2 (24.2.2022)
88 https://www.assemblee-nationale.fr/dyn/15/rapports/ots/l15b1488_rapport-information#_Toc533086326 (24.2.2022)
89 Mitteilung der Kommission. Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips. /* KOM (2000) 1 endgültig
Vorabfassung – wird durch die endgültige Fassung ersetzt.








































































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