Page 154 - Auswirkungen-HF-EMF-auf-die-Gesundheit
P. 154

Drucksache 20/5646
› neue Wege und Orte der Unsicherheits- und Risikoinformation und des Dialoges angesichts des hohen Bedarfs
an Austausch der unterschiedlichen Akteure;
› Evaluierung des Risikogovernancesystems in Hinblick auf die institutionell getrennte Bearbeitung von Evi- denzbeurteilung, Handlungsempfehlung und politische Entscheidung.
Risikogovernance
Die in diesem Bericht vorgenommene Analyse der Studienlage betraf die Identifizierung des Gefährdungspoten- zials, die Expositionsschätzung und quantitative Charakterisierung der Risiken sowie der mit den wissenschaftli- chen Erkenntnissen assoziierten Unsicherheiten. Als solches dient das TA-Projekt der Risikoabschätzung. Auf diesen Ergebnissen aufbauend kann das Risikomanagement Maßnahmen identifizieren, auswählen, umsetzen und evaluieren.
Wenn wissenschaftlich fundierte Hinweise auf ein Gefährdungs- und Expositionspotenzial vorliegen, kann
es angebracht sein, vorsorglich Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dies ist der Fall, wenn eine plausible Drohung
oder Gefährdung vorliegt (BfS 2008, S.1) bzw. wenn die vorliegenden Erkenntnisse Anlass zur Besorgnis ge-
85
Warum in einzelnen Studien signifikante Effekte beobachtet wurden und zugleich Aggregatoren zu dem Schluss kommen, dass kein Grund zur Sorge vorhanden bzw. eine Anpassung der Regulierung nicht erforderlich ist, illustriert der Bericht von ITA und AIT (2020, 34ff.) in eindrucksvoller Weise. Bei der Aggregation werden die Ergebnisse einzelner Studien vor dem Hintergrund des gesamten Wissens und Nichtwissens bewertet. Dies führt dazu, dass die Bedeutung etwaiger empirischer Ergebnisse durch das Fehlen theoretischer Erklärungsmo- delle oder von Studien, die die Ergebnisse reproduzieren, abgeschwächt werden. So können Aggregatoren bei- spielsweise an einer Stelle hinterfragen, ob Forschung zu gentoxischen Effekten auf Zellniveau gerechtfertigt ist, wenn keine Erhöhung der Krebsrate in Tierstudien beobachtet wurde und an anderer Stelle darauf hinweisen, dass eine beobachtete erhöhte Krebserkrankung auf die Behandlung nicht zurückzuführen ist, wenn die Wirkmecha- nismen nicht geklärt sind (RSC 2014, S.80). So kommen manche Expert/innen und Organisationen zu dem Schluss, dass Vorsorgemaßnahmen unverzüglich implementiert werden müssen (Carlberg & Hardell 2017, Butler 2020), andere zum gegenteiligen Schluss (siehe Kap. 6.2). Dies ist auch davon abhängig, welche Anforderungen für die Anwendung des Vorsorgeprinzips zugrunde gelegt werden: ein Anfangsverdacht oder ein stichhaltiger Beweis (ITA und AIT 2020, S. 39). Auch die jeweilige (institutionalisierte) Risikokultur spielt bei der Formulie- rung von Empfehlungen eine zentrale Rolle (ITA und AIT 2020, 40 f.).
Zusätzliche Fragen (gerade auch im Kontext der jeweiligen unterschiedlichen Risikokulturen) werfen etwa auch biologische Effekte auf, die nicht zwingend zu gesundheitlichen Schäden führen müssen. Bezüglich Evidenz und Risiko heißt dies, dass die Abwesenheit jeden Risikos in komplexen Systemen (und dazu zählen biologische Systeme und somit auch der menschliche Organismus) prinzipiell nicht letztgültig bewiesen werden kann. Viele Variablen lassen viele Risikohypothesen zu, während zugleich alle Details der betroffenen organischen Systeme, Wirkmechanismen und hypothetisch ausgelösten Erkrankungen zu wenig verstanden sind (ITA 2020, S. 27).
Eine disziplinenübergreifende Zusammenarbeit bei der Betrachtung dieser Variablen wäre notwendig. Wün- schenswert wäre eine fächerübergreifende Zusammenarbeit auch, um Risikohypothesen des Mobilfunks per se besser abklären zu können. Von systemorientierten Expert/innen wird deshalb angemahnt, umweltmedizinische Synergieeffekte nicht zu unterschätzen. Das heißt, dass ein möglicher biologischer Einfluss oder eine gesundheit- liche Belastung durch Mobilfunkstrahlung im Lebensalltag nicht isoliert auf einen Organismus wirken. Sie addie- ren sich zu den anderen Umwelteinflüssen wie sonstigen elektromagnetischen Feldern, chemischen Substanzen
– 154 –
Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode
   ben.
durchgeführten wissenschaftlichen Analyse, den Charakteristiken der Technologie oder antizipierten Risiken so- wie der mit der Frage assoziierten wissenschaftlichen Unsicherheiten ab (RECIPIES 2021, S.15ff.). Wissen- schaftliche Unsicherheiten sind vorhanden, wenn widersprüchliche Daten beispielsweise über die Natur oder das Ausmaß der Effekte vorliegen oder aber auch wenn der kausale Zusammenhang nicht endgültig wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte (Science for Environmental Policy, 2017, S. 5). Meistens lässt sich der kausale Zu- sammenhang zwischen Risikofaktor und Erkrankung nicht abschließend beurteilen. Ein Interpretationsspielraum bleibt häufig übrig (BfS 2021, S. 4). Auch aus der in diesem Bericht analysierten Studienlage kann kein Beweis für eine generelle Unbedenklichkeit von mobilfunkverursachten EMF abgeleitet werden.
Ob dies der Fall ist, hängt maßgeblich von der Bewertung der Ernsthaftigkeit des Risikos, dem Umfang der
 85 https://www.umweltbundesamt.de/vorsorgeprinzip (24.2.2022)
Vorabfassung – wird durch die endgültige Fassung ersetzt.















































































   152   153   154   155   156